Ich weiß noch, dass, als in einer der letzten Schulklassen, Dostojewski dran kam, ich noch keine Zeile von ihm gelesen hatte.
Ich stellte mir den Verfasser von "Schuld und Sühne" als einen finsteren, freudlosen Menschen vor. Die gleiche Vorstellung hatten alle meine Altersgenossen. Und noch immer hatte ich keines der Werke Dostojewskis gelesen.

Für mich entdeckt habe ich Dostojewski erst viel später, als Student der Technischen Universität, als mein Vorurteil ihm gegenüber vollständig verflogen war.

Wie vielleicht bekannt, dieser große Mann hatte ein schweres Schicksal  zu ertragen: ein Todesurteil, das später durch Verbannung nach Sibirien ersetzt wurde, den Armeedienst, immerwährende Geldsorgen, den Tod von Verwandten und Freunden, eigene schwere Krankheit… Wahrscheinlich stellen wir uns Dostojewski deshalb so vor, wie er auf den meisten Fotos und Porträts  dargestellt ist, - finster und grüblerisch. Aber wir erinnern uns doch, dass Werke wie "Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner", "Onkelchens Traum", "Eine garstige Anekdote",  "Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett", "Das Krokodil" von großartigem Humor und feiner Ironie erfüllt sind. Also, wie war Dostojewski in Wahrheit?

Es gab auch Momente der Freude im Leben des Schriftstellers, wo alle lästigen Probleme und Alltagssorgen in den Hintergrund traten, und er sich  entspannen und faulenzen konnte. In solchen Momenten war Fjodor Michailowitsch wie verwandelt, seine Augen leuchteten, sein Humor war unerschöpflich, und er wirkte geradezu jünger.

An  eine solche Zeit erinnert sich seine Nichte Maria Alexandrowna Iwanowa. Den Sommer 1866 verbrachte Dostojewski in Ljublino, nicht weit von Moskau, wo er ein Sommerhaus in der Nähe des Hauses seiner Lieblingsschwester Vera Michailowna gemietet hatte. Dort pflegte sich im Sommer eine Menge junger Leute zu versammeln, und die Seele, der Anführer dieser Gesellschaft war immer Fjodor Michailowitsch. Ständig dachte er sich neue Spiele aus, organisierte nächtliche Ausflüge ins benachbarte Dorf, und bezog die jungen Leute in den damals aktuellen  Streit über den Nihilismus ein.  Einmal initiierte er die "Entführung" junger Mädchen, denen eine strenge  deutsche Gouvernante (Dostojewski mochte sie nicht) keinen nächtlichen Ausgang gestatten wollte. Damit die Mädchen nicht heimlich wegliefen, versteckte sie ihnen die Schuhe! Die Jugendlichen, von Fjodor Michailowitsch angeleitet, besorgten sich am Tag vorher einige Paar Schuhe, unter dem Fenster der Gouvernante sang Dostojewski Puschkin-Romanzen, und als klar war, dass die Gouvernante schlief, wurden die Mädchen "entführt", bis zum Morgen. Einige Tage ging das so.

Unter den Spielen und Unternehmungen war vor allem das Theaterspielen auf einer improvisierten Bühne sehr beliebt, und auch bei diesen Aufführungen war Fjodor Michailowitsch der führende Kopf und spielte selbst die Hauptrollen.  Maria Alexandrowna erinnert sich an eine dieser Aufführungen, bei der es um das Gericht über einen widerspenstigen Ehemann ging, der etwas gegen die Frauenemanzipation hatte. Fjodor Michailowitsch spielte, in einer roten Bluse seiner Schwester, mit einem Eimer auf dem Kopf und einer großen Papierbrille, den Richter. Der ungeratene Ehemann wurde zur Verbannung auf den Nordpol verurteilt. Der nächste Akt, schon auf dem Nordpol spielend,  war mit Bettlaken und weißer Watte ausgestattet, dort spielte Fjodor Michailowitsch einen Eisbären, der den Ehemann am Ende auffraß.

Dazu ist anzumerken, dass in ebendiesem Sommer auf der Datsche Dostojewski an einem seiner kompliziertesten Werke, nämlich SCHULD UND SÜHNE, arbeitete. Seine Nichte erinnert sich in dem Zusammenhang an einen drolligen Vorfall.

In der Datsche übernachtete zusammen mit Dostojewski auch einer der Dienstboten der Iwanows. Eines Morgens äußerte er, nicht weiter dort übernachten zu wollen, da Dostojewski offenbar einen Mord plane und in nächtlichen Selbstgesprächen den Plan dazu ausspinne.

Alle hatten Dostojewski sehr gern und gingen mit ihm, ungeachtet des Altersunterschieds, um wie mit ihresgleichen. Alexander Pawlowitsch Iwanow, Vera Michailownas Mann, war ein großzügiger und gutmütiger Mensch, sein Haus stand immer offen für alle, so dass sich am Esstisch manchmal bis zu 20 Gäste, vor allem Jugendliche, versammelten. Auch hier wieder war die Seele der Gesellschaft Fjodor Michailowitsch. Seine Fähigkeit, zu allen Anlässen einen Scherz oder ein paar Verse zu improvisieren, war unerschöpflich. In diesem Sommer schickte sich  Maria Alexandrowna an, ins Konservatorium einzutreten, und bat den Onkel , ihr das Gesuch dazu zu schreiben . Als sie ihn ein paar Tage später danach fragte, nahm Fjodor Michailowitsch ein leeres Blatt Papier und  las ernsthaft vor:

Lang  schon wünsch ich sehr und dicke

Mich in das Konservatorium, um bei Niki Rubinstein

Zu studieren die Musicke.

Nehm’n  Sie dieses mein Gesuch,

Tragens ein ins Eingangsbuch,

Schreiben mir ne Antwort hin,

Dass ich weiß, woran ich bin.)*

Nachdem ausgiebig gelacht worden war, nahm er ein neues Blatt und schrieb das Gesuch im aller Form.

Einmal zog er seinen Neffen, der schon als Arzt arbeitete, auf,  indem er behauptete, er sei einer höheren Karriere würdig.  Und auf die Frage, was für eine er da für ihn sähe, antwortete Dostojewski, er könne doch  ein religiöser Prophet, ein zweiter Mohammed, werden. Aus diesem Anlass wurde ein „Kreuzzug“ ins Nachbardorf organisiert, der unter Pfeifen und Kupferbecken-Schlagen vor sich ging.

Fjodor Michailowitsch erinnerte sich mit sehr warmen Worten an jenen Sommer 1866. Viele Teilnehmer der damaligen Vergnügungen erscheinen  als Personnagen in seiner in Dresden geschriebenen Erzählung DER EWIGE EHEMANN.

Wenn man die Erinnerungen der Brüder des Schriftstellers liest, fallen einem Parallelen zwischen Dostojewskis Kindheit und den Ereignissen des Sommers 1866 auf. Die kindliche Begeisterungsfähigkeit, die Offenheit und die Neugier, die er Jugend eignen, sind Dostojewski offenbar sein Leben lang erhalten geblieben. Vielleicht war das der Grund seiner so sehr deutlichen Liebe  zu Kindern. Zu Kindern, der Hoffnung  für die Zukunft der Menschheit.

Franz Hermann, Dresden

)* Gedichtübersetzung von Dr. Ute Baum